IM GARTEN DER SCHWARZEN BLUME
Sie
räumten den Tisch ab und schrubbten draußen das Geschirr mit Sand
sauber. Oromis verstreute die übrig gebliebenen Brotkrumen rund um
die Hütte als Futter für die Vögel. Dann gingen sie wieder
hinein.
Der Elf holte Federkiele und Tinte für
Eragon, und sie setzten seine Unterweisung in der Liduen Kvaedhí fort, der geschriebenen Form
der alten Sprache, die so viel eleganter aussah als die Buchstaben
der Menschen und die Runen der Zwerge. Eragon versenkte sich in die
uralten Glyphen, glücklich darüber, sich einer Aufgabe widmen zu
können, bei der er bloß auswendig lernen musste.
Nachdem er mehrere Stunden über den Papieren
gesessen hatte, winkte Oromis ab und sagte: »Das genügt für heute.
Wir machen morgen weiter.« Eragon lehnte sich zurück und lockerte
die Schultern, während Oromis einige Schriftrollen aus den
Wandfächern zog. »Zwei dieser Rollen sind in der alten Sprache
verfasst, drei in deiner. Sie werden dir helfen, beide Alphabete zu
meistern, und dir überdies wertvolle Informationen geben, die sich
nur schwer in Worte fassen lassen.«
»Wie meint Ihr das?«
Oromis zog eine sechste Schriftrolle aus
einem Fach und legte sie zu den anderen. »Das hier ist ein Lexikon.
Ich bezweifle zwar, dass du es in der kurzen Zeit schaffst, aber
versuche, es während deines Aufenthalts in Ellesméra
durchzuarbeiten.«
Als der Elf ihm die Tür öffnete, zögerte
Eragon.
»Meister?«
»Ja, Eragon?«
»Wann fangen wir endlich mit der Magie
an?«
Oromis lehnte sich an den Türpfosten und
sank in sich zusammen, als besäße er plötzlich nicht mehr die
Kraft, sich aufrecht zu halten. Dann seufzte er und sagte: »Du
kannst meinem Lehrplan ruhig vertrauen, Eragon. Trotzdem - es wäre
wohl dumm von mir, dich noch länger auf die Folter zu spannen. Leg
die Schriftrollen auf den Tisch und folge mir! Versuchen wir, die
Geheimnisse derGramarye zu
erkunden.«
Auf der Kleewiese vor der Hütte blieb Oromis
stehen und schaute über die Felsen von Tel’naeír, die Beine
schulterbreit gespreizt, die Hände im Rücken gefaltet. »Was ist
Magie?«, fragte er, ohne sich zu Eragon umzudrehen, der hinter ihm
stehen geblieben war.
»Die Manipulation von Energie durch die
Anwendung der alten Sprache.«
Oromis antwortete erst nach einer kurzen
Pause. »Technisch gesehen, ist deine Antwort korrekt, und viele
Magier verstehen die Gramarye auch nur so. Aber deine Definition
erfasst nicht das, worum es wirklich geht. Magie ist die Kunst
des Denkens, nicht der Stärke oder
der Sprache. Wie bei allem, was du noch lernen musst, stützt auch
sie sich in erster Linie auf einen disziplinierten Geist.
Brom hat den üblichen Lehrplan verkürzt und
die subtileren Bereiche der Magie ausgespart, um dich mit den
Fähigkeiten auszustatten, die du zum Überleben brauchtest. Auch ich
muss einiges auslassen und mich in meinem Unterricht auf die
Fertigkeiten konzentrieren, die du in den bevorstehenden Schlachten
unbedingt beherrschen musst. Während Brom dir nur die groben
Mechanismen der Magie beigebracht hat, werde ich dir ihre feineren
Anwendungen zeigen. Ich weihe dich in Geheimnisse ein, die einst
nur den weisesten Drachenreitern bekannt waren. Zum Beispiel, wie
man mit dem Kraftaufwand einer kurzen Fingerbewegung tötet. Oder
wie man einen Gegenstand in Windeseile von einem Ort zum anderen
transportiert. Ich bringe dir einen Zauber bei, mit dem du in
deinen Speisen Gifte aufspüren kannst, sowie eine Variation der
Traumsicht, bei der du den Gesuchten nicht nur siehst, sondern auch
hörst. Du wirst lernen, wie du deiner Umgebung Energie entziehen
und auf diese Weise deine eigenen Kraftreserven schonen kannst, und
ich zeige dir, wie du deine Stärke in jeder nur erdenklichen Weise
maximieren kannst.
Diese Techniken sind so mächtig und
gefährlich, dass man sie unerfahrenen Drachenreitern wie dir nie
gezeigt hat. Aber die Umstände zwingen mich, sie preiszugeben und
darauf zu vertrauen, dass du dein Wissen nicht missbrauchst.«
Oromis hob den rechten Arm an, die Finger zu einer Klaue
gekrümmt. »Adurna!«, rief er.
Eragon sah zu, wie aus dem Bach hinter der
Hütte eine Wasserkugel aufstieg und dem Elf wie ein Falke auf die
ausgestreckte Hand flog.
Der Bach schimmerte dunkelbraun unter dem
Geäst des Waldes, die aufgestiegene Wasserkugel hingegen war
durchscheinend wie Glas. In ihrem Inneren wirbelten Moosstücke,
Schlamm und Holzsplitter umeinander.
Oromis nahm den Blick nicht vom Horizont,
als er sagte: »Fang!« Er warf die Kugel über die Schulter zu
Eragon.
Eragon versuchte, den Wasserball zu fangen,
aber sobald er ihn berührte, verlor das Wasser seine
Oberflächenspannung und spritzte ihm über die Brust.
»Du musst sie mit Magie fangen«, erklärte
Oromis. Er rief erneut: »Adurna!«,
und aus dem Bach stieg eine weitere Wasserkugel auf, die dem Elf
auf die Hand flog.
Diesmal warf Oromis sie ohne Vorankündigung.
Eragon war jedoch gewappnet. »Reisa du
Adurna!«, rief er, während er nach der Wasserkugel griff. Sie
bremste haarscharf vor seiner Handfläche ab und schwebte in der
Luft.
»Eine sehr unbeholfene Wortwahl«, bemerkte
Oromis, »aber offenbar funktioniert es.«
Eragon grinste und
flüsterte: »Thrysta!«
Die Wasserkugel setzte sich in Bewegung und
flog auf Oromis’ silberhaarigen Hinterkopf zu; doch sie traf den
Elf nicht, sondern sauste um seinen Kopf herum und kam rasend
schnell auf Eragon zurückgeschossen.
Die Kugel war hart wie polierter Marmor, als
sie Eragon mit voller Wucht an den Kopf schlug. Der Aufprall
schleuderte ihn ins Gras, wo er wie betäubt liegen blieb und
Lichter am Himmel blitzen sah.
»Letta oder kodthr wären die besseren Vokabeln gewesen«,
erklärte Oromis. Endlich drehte er sich zu Eragon um und zog
überrascht eine Augenbraue hoch. »Was machst du denn da unten? Steh
auf! Du kannst dich doch nicht einfach hinlegen.«
»Jawohl, Meister«, stöhnte Eragon.
Als er sich wieder aufgerappelt hatte,
zeigte Oromis ihm, in welch vielfältiger Weise man das Wasser
manipulieren konnte. Er formte es zu komplexen Knoten, veränderte
seine Farbe und ließ es in ausgeklügelten Sequenzen gefrieren -
Eragon konnte alles mühelos nachmachen.
Die Übungen zogen sich dermaßen in die
Länge, dass Eragons anfänglicher Eifer in Ungeduld und schließlich
in Zweifel umschlug. Er wollte Oromis nicht verärgern, aber er
erkannte keinen Sinn in dem, was der Elf da tat. Es schien, als
vermiede Oromis jeden Zauber, bei dem Eragon sich wirklich
anstrengen musste. Ich habe ihm doch
schon gezeigt, was ich alles kann. Warum besteht er darauf, diese
Grundlagen zu wiederholen? »Meister«, sagte er
schließlich. »Ich kenne das alles schon. Können wir nichts
Schwierigeres probieren?«
Oromis’ Nackenmuskeln verhärteten sich, und
seine Schultern wirkten wie aus Granit gemeißelt, nur dass sie
bebten. Der Elf hielt sogar kurz den Atem an, bevor er antwortete:
»Wirst du niemals Respekt lernen, Eragon-Vodhr? Aber gut, wie du
willst!« Er stieß vier Worte in der alten Sprache aus, sprach dabei
aber mit so tiefer Stimme, dass Eragon ihn nicht verstehen
konnte.
Eragon schrie auf, als ihm plötzlich ein so
starker Druck die Waden zusammenpresste, dass er keinen Fuß mehr
vor den anderen setzen konnte. Sein restlicher Körper war weiterhin
beweglich, aber unterhalb der Knie hatte er das Gefühl, als hätte
man ihn in Zement getaucht.
»Befreie dich!«, befahl Oromis.
Hier war endlich die Herausforderung, der
Eragon sich noch nie hatte stellen müssen: Wie konterte man einen
feindlichen Zauber? Es gab zwei Möglichkeiten, die unsichtbaren
Fesseln zu sprengen. Wenn er wüsste, wie Oromis ihn gelähmt hatte - ob er ihn
direkt angegriffen oder eine äußere Kraftquelle benutzt hatte -,
könnte er mit Leichtigkeit die Kraft umkehren und damit Oromis’
Manipulation aufheben. Oder aber er konnte einen unspezifischen
Gemeinzauber einsetzen, um die Magie des Elfen zu blockieren. Der
Nachteil hierbei war allerdings, dass es zu einem direkten
Kräftemessen zwischen ihnen kommen würde. Irgendwann musste es ja geschehen, dachte Eragon.
Er machte sich keine Hoffnungen, gegen jemanden wie Oromis gewinnen
zu können.
Er legte sich den nötigen Satz zurecht und
sagte: »Losna Kalfya iet.« Gib meine
Waden frei.
Seinem Körper entströmte viel mehr
Lebenskraft, als Eragon erwartet hatte. Jetzt war er nicht mehr nur
erschöpft von den Anstrengungen eines langen Unterrichtstages,
sondern geradezu ausgelaugt, als wäre er seit dem frühen Morgen mit
einer Zentnerlast auf dem Rücken über widriges Gelände marschiert.
Dann verschwand der Druck von seinen Beinen und fast hätte er das
Gleichgewicht verloren und wäre gestürzt.
Oromis schüttelte den Kopf. »Dumm«, sagte
er. »Sehr dumm. Hätte ich meinen Zauber länger aufrechterhalten,
hätte es dich getötet. Benutze niemals Absolutheiten!«
»Absolutheiten?«
»Formuliere deinen Zauber nie so, dass nur
zwei Ergebnisse möglich sind: Erfolg oder Tod. Hätte dir ein Feind,
der stärker ist als du, die Beine gefesselt, hättest du bei dem
Versuch, seinen Bann zu brechen, deine ganze Lebenskraft
verbraucht. Du hättest keine Gelegenheit mehr gehabt, den Zauber zu
lösen, und wärst gestorben.«
»Was soll ich denn stattdessen tun?«,
erkundigte sich Eragon.
»Es ist sicherer, den Zauber als einen
Prozess zu gestalten, den du jederzeit beenden kannst. Statt zu
sagen: ›Gib meine Waden frei‹, was eine Absolutheit ist, hättest du
sagen sollen: ›Reduziere die Magie, die meine Waden gefangen hält.‹
Dieser Zauber ist vielleicht etwas wortreicher, aber du hättest
kontrollieren können, wie weit du die gegnerische Magie reduzieren
willst und ob es sicher ist, sie ganz zu entfernen. Versuchen wir
es noch einmal.«
Erneut legte sich ein fester Druck um
Eragons Waden, als Oromis seinen Zauberspruch murmelte. Eragon war
so erschöpft, dass er bezweifelte, große Gegenwehr leisten zu
können. Trotzdem beschwor er seine Magie herauf.
Noch bevor die Worte der alten Sprache aus
Eragons Mund kamen, merkte er, wie der Druck an seinen Waden
allmählich nachließ. Es kribbelte merkwürdig und fühlte sich an,
als würde man ihn langsam aus einem klammen, glitschigen Sumpfloch
herausziehen. Er schaute zu Oromis hinüber. Das Gesicht seines
Lehrmeisters war vor Anstrengung verzerrt, als klammerte sich der
alte Elf mit aller Kraft an etwas Kostbares, das zu verlieren er
nicht ertragen konnte. Über seiner Schläfe pochte eine Ader.
Als Eragons magische Fesseln gänzlich von
ihm abfielen, zuckte Oromis zurück, als hätte ihn eine Wespe
gestochen, und starrte schwer atmend auf seine Hände. Eine ganze
Minute lang verharrte er regungslos, dann straffte er die Schultern
und trat an den Rand des Felsmassivs, eine einsame Gestalt, deren
Umrisse sich scharf gegen den fahlen Himmel abhoben.
Bedauern und Trauer überkamen Eragon -
dieselben Gefühle, die ihn erfüllt hatten, als er zum ersten Mal
Glaedrs verstümmeltes Vorderbein gesehen hatte. Er verwünschte
sich, weil er so forsch gewesen war und in seinem Eifer Oromis’
Gebrechen vergessen hatte. Und weil er dem Urteil seines
Lehrmeisters nicht vertraut hatte. Ich
bin nicht der Einzige, der mit alten Verletzungen zurechtkommen
muss. Eragon hatte nicht so recht verstanden, was Oromis damit
gemeint hatte, als er sagte, er würde nur noch die einfachste Magie
beherrschen, aber jetzt erkannte er die ganze Tragik in Oromis’
Unzulänglichkeit und welchen Schmerz es ihm bereiten musste - erst
recht als Angehörigem eines Volkes, bei dem sich das ganze Leben um
Magie drehte.
Eragon ging zu Oromis, kniete neben ihm
nieder und presste nach Art der Zwerge die Stirn auf die Erde.
»Ebrithil, ich bitte Euch um Vergebung.«
Der Elf ließ sich nicht anmerken, ob er ihn
verstanden hatte.
Die beiden verharrten in ihrer jeweiligen
Haltung, während die Sonne zum Horizont herabsank, die Vögel ihre
Abendlieder zwitscherten und es allmählich kühl und feucht wurde.
Von Norden hörten sie die dumpfen Flügelschläge von Saphira und
Glaedr, die ebenfalls ihren Unterricht beendet hatten.
Mit leiser, fast entrückter Stimme sagte
Oromis: »Wir machen morgen weiter. Mit diesem und mit anderen
Themen.« Am Profil des Elfen sah Eragon, dass sein Meister wieder
den gewohnt reservierten Gesichtsausdruck angenommen hatte. »Ist
das in deinem Sinne?«
»Ja, Meister.« Eragon war dankbar für die
Frage.
»Ich halte es für das Beste, wenn du fortan
nur noch in der alten Sprache sprichst. Wir haben wenig Zeit und
auf diese Weise lernst du sie am schnellsten.«
»Auch wenn ich mit Saphira rede?«
»Auch dann.«
Eragon wechselte in die Elfensprache. »Gut,
ich werde Euren Rat befolgen und so lange üben, bis ich in Eurer
Sprache nicht nur denke, sondern auch träume.«
»Wenn du das schaffst«, antwortete Oromis,
»könnte unser Unterfangen gelingen.« Er hielt inne. »Statt morgen
früh direkt hierher zu fliegen, wirst du den Elf begleiten, der
dich abholt. Er wird dich dorthin bringen, wo wir in Ellesméra den
Schwertkampf üben. Bleibe eine Stunde dort und dann erst machen wir
wie gewöhnlich weiter.«
»Warum unterrichtet Ihr mich nicht?«, fragte
Eragon gekränkt.
»Ich kann dir nichts mehr beibringen. Du
bist einer der besten Schwertkämpfer, denen ich je begegnet bin.
Das Wenige, was ich im Gegensatz zu dir überdies beherrsche, kann
ich dir nicht zeigen. Du brauchst nichts weiter zu tun, als dein
derzeitiges Niveau zu halten.«
»Warum kann ich das nicht mit Euch tun...
Meister?«
»Weil ich den Tag nicht mit Ärger und Streit
beginnen möchte.« Oromis sah Eragon an und sein Blick wurde
sanfter. »Außerdem wird es dir gut tun, ein paar andere Einwohner
von Ellesméra kennen zu lernen. Ich bin nicht repräsentativ für
mein Volk. Doch nun genug davon. Schau, da kommen sie!«
Die beiden Drachen kamen aus der Sonne
geflogen. Zuerst landete Glaedr schwerfällig im Gras und faltete
die goldenen Flügel, dann folgte Saphira, so flink und wendig wie
ein Spatz neben einem alten Adler.
Wie schon am Morgen fragten Oromis und
Glaedr sie ab, um zu prüfen, ob Eragon und Saphira den Unterricht
des anderen mitverfolgt hatten. Das hatten sie zwar nicht
ununterbrochen getan, aber da sie rasch die nötigen Informationen
austauschten, konnten sie alle Fragen beantworten. Nur die fremde
Sprache, in der sie redeten, bereitete ihnen einige
Schwierigkeiten.
Schon besser,
brummte Glaedr anschließend. Viel
besser. Er richtete den Blick auf Eragon. Wir beide werden demnächst ein bisschen an deiner
Flugtechnik arbeiten.
»Selbstverständlich, Skulblaka.«
Der alte Drache schnaubte und humpelte auf
seinen gesunden Beinen auf Oromis zu. Hinter ihm kam Saphira
herangeflitzt und biss in Glaedrs Schwanzspitze, zog und zerrte
daran und schleuderte den Schwanz mit einem Kopfrucken in die Luft,
so wie sie einen Rehbock erlegen würde. Sie sprang erschrocken
zurück, als Glaedr herumwirbelte und mit seinen mächtigen Fängen
nach ihr schnappte.
Eragon zuckte zusammen und hielt sich rasch
die Ohren zu, um sie vor dem gewaltigen Gebrüll des alten Drachen
zu schützen. Aus Glaedrs heftiger, blitzschneller Reaktion schloss
Eragon, dass Saphira ihn den ganzen Tag lang gepiesackt haben
musste. Doch statt Reue nahm er in ihr bloß eine übermütige
Verspieltheit wahr - wie bei einem Kind, das ein neues Spielzeug
bekommen hat - und eine fast bedingungslose Ergebenheit gegenüber
dem anderen Drachen.
»Beherrsche dich, Saphira!«, schimpfte
Oromis. Saphira hüpfte zurück und setzte sich aufs Hinterteil,
zeigte aber keinerlei Schuldbewusstsein. Eragon murmelte eine
schwächliche Entschuldigung und Oromis fuhr mit der Hand durch die
Luft und sagte: »Verschwindet, alle beide!«
Ohne Widerspruch kletterte Eragon auf
Saphiras Rücken. Er musste sie drängen, endlich loszufliegen, und
als sie in der Luft war, zog sie noch drei Runden über der
Lichtung, bevor es ihm gelang, sie in Richtung Ellesméra zu
lenken.
Was ist nur in dich
gefahren, Glaedr zu beißen?, fragte er. Er glaubte zwar, es zu
wissen, wollte es aber von ihr hören.
Ich habe doch nur
gespielt.
Es war die Wahrheit, denn sie redeten in der
alten Sprache, aber Eragon argwöhnte, dass ihre Antwort nur ein
Teil einer größeren Wahrheit war. Schön,
aber was für ein Spiel sollte das denn sein? Sie
versteifte sich unter ihm. Du hast
vergessen, warum wir hier sind. Indem du... Er suchte
nach dem richtigen Wort, und als es ihm nicht einfiel, wechselte er
wieder in die Sprache der Menschen. Indem
du Glaedr provozierst, lenkst du ihn, Oromis und mich
ab... und gefährdest dadurch unsere
Ziele. Du bist doch sonst nicht so gedankenlos!
Tu nicht so, als wärst
du mein Gewissen!
Er musste herzhaft lachen und neigte sich
dabei so weit zur Seite, dass er fast von ihren Schultern
heruntergefallen wäre. Und das aus deinem
Mund, nachdem du mir tausendmal gesagt hast, was ich zu tun habe!
Ich bin dein Gewissen, Saphira,
und du bist meins. Du hattest in der Vergangenheit genug gute
Gründe, mich zu tadeln und zu warnen, und jetzt ist es eben einmal
andersherum: Hör auf, Glaedr nachzustellen!
Sie schwieg.
Saphira?
Ich habe dich schon
verstanden.
Das hoffe
ich.
Zwei Anfälle an einem
Tag, sagte sie nach einer Minute, in der sie schweigend
weitergeflogen waren. Wie geht es dir
jetzt?
Mir tut alles weh und
mir ist schlecht. Er verzog das Gesicht. Ein Teil rührt vom Rimgar und den magischen Übungen her,
aber vor allem sind es die Nachwirkungen der Rückenschmerzen. Sie
wirken wie ein Gift, das meine Muskeln schwächt und mein Denken
beeinträchtigt. Ich hoffe nur, ich bleibe lange genug bei Verstand,
um die Ausbildung zu überstehen. Danach... Ich weiß nicht, was ich
dann tun werde. So kann ich jedenfalls nicht für die Varden
kämpfen.
Denk nicht zu viel
darüber nach, riet sie ihm. Du
kannst es ohnehin nicht ändern und fühlst dich nur noch schlechter,
wenn du ständig grübelst. Lebe in der Gegenwart und hab keine Angst
vor der Zukunft, denn sie existiert nicht und wird es auch nie tun.
Es gibt nur das Jetzt.
Er klopfte ihr auf die Schulter und lächelte
missvergnügt. Rechts von ihnen kreiste ein Hühnerhabicht auf einem
warmen Luftstrom und hielt zwischen den entwurzelten Bäumen nach
pelziger oder gefiederter Beute Ausschau. Eragon beobachtete den
Vogel, während er über die Frage nachdachte, die Oromis ihm
gestellt hatte. Wie konnte er rechtfertigen, gegen das Imperium zu
kämpfen, wenn es doch so viel Kummer und Leid verursachen
würde?
Ich weiß eine
Antwort, sagte Saphira.
Und die
wäre?
Dass
Galbatorix... Sie zögerte. Nein, sagte sie dann. Ich verrate es dir nicht. Du solltest selbst darauf
kommen.
Saphira! Sei
vernünftig!
Bin ich doch. Wenn du
nicht weißt, warum wir das Richtige tun, kannst du dich ja gleich
Galbatorix anschließen.
Wie sehr er sie auch bedrängte, er konnte
ihr nichts mehr entlocken, denn sie schloss ihn aus diesen Gedanken
aus.
Zurück im Baumhaus, nahm Eragon ein leichtes
Abendessen zu sich und wollte gerade Oromis’ Schriftrollen öffnen,
als jemand anklopfte.
»Herein«, sagte er. Er hoffte, es wäre
Arya.
Sie war es.
Arya begrüßte Eragon und Saphira und sagte:
»Ich dachte, ihr würdet vielleicht gerne die Tialdarí-Halle und die
angrenzenden Gärten besuchen, da ihr ja gestern euer Interesse
bekundet habt. Natürlich nur, wenn ihr nicht zu müde seid.« Sie
trug ein fließendes rotes Kleid mit einem kunstvollen schwarzen
Stickmuster. Der elegante Aufzug erinnerte Eragon an die Königin
und unterstrich die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter.
Eragon schob die Schriftrollen beiseite.
»Ich komme gerne mit.«
Er
meint, wir kommen gerne
mit, verbesserte ihn Saphira.
Arya schien überrascht, dass die beiden in
der alten Sprache redeten, deshalb erklärte Eragon ihr Oromis’
Auftrag. »Das ist eine ausgezeichnete Idee.« Arya wechselte
ebenfalls in die Elfensprache. »Außerdem ist es ohnehin angebracht,
in dieser Sprache zu reden, wenn man sich in Du Weldenvarden
aufhält.«
Nachdem sie von dem Baum heruntergestiegen
waren, führte Arya sie nach Westen in ein Viertel von Ellesméra,
das Eragon und Saphira noch nicht kannten. Auf dem Weg dorthin
begegneten sie vielen Elfen, die sich alle respektvoll vor Saphira
verbeugten.
Erneut fiel Eragon auf, dass man nirgendwo
Elfenkinder sah. Er sprach Arya darauf an. »Ja, wir haben nur
wenige Kinder. Im Augenblick halten sich in Ellesméra nur zwei auf,
Dusan und Alanna. Wir schätzen Kinder über alles, weil sie so
selten sind. Eines zu haben, ist die größte Ehre, die einem Elf
widerfahren kann.«
Schließlich erreichten sie einen verzierten,
zwischen zwei Bäumen gewachsenen Torbogen, der den Eingang zu einem
ausgedehnten Gelände markierte. »Wurzeln des Waldes, Früchte des
Weines, lasst mich passieren kraft dieses Reimes«, sang Arya in der
alten Sprache.
Die beiden Türflügel erzitterten, dann
schwangen sie nach außen auf und fünf bunte Schmetterlinge kamen
herausgeflogen und flatterten zum dämmrigen Himmel empor. Hinter
dem Torbogen lag ein riesiger Blumengarten, der so unberührt und
natürlich wie eine urwüchsige Wiesenlandschaft aussah. Nur die
Vielfalt der Blumen verriet, dass er künstlich angelegt worden war.
Viele der Pflanzen blühten außerhalb ihrer Jahreszeit oder gediehen
normalerweise nur in heißeren oder kälteren Gegenden. Ohne die
Elfenmagie hätten sie hier niemals überlebt. Die ganze Szenerie
wurde von flammenlosen, edelsteinartigen Laternen und von
unzähligen Glühwürmchenschwärmen erleuchtet.
»Pass auf deinen Schwanz auf«, bat Arya
Saphira. »Damit er nicht durch die Beete fegt.«
Sie schlenderten durch den Garten zu einer
Reihe von einzelnen Bäumen, die, ohne dass Eragon es bewusst
wahrnahm, immer enger standen, bis sie schließlich eine solide Wand
bildeten. Er fand sich vor einer Halle aus glänzendem Edelholz
wieder, ohne sie vorher überhaupt gesehen zu haben.
Das Innere der Halle war warm und behaglich
- ein Hort des Friedens, der Kontemplation und Ruhe. Die Form der
Halle gaben die Bäume vor, deren Rinde man innen abgeschält, das
Holz poliert und mit Öl getränkt hatte, bis es wie Bernstein
schimmerte. Gleichmäßige Lücken zwischen den Bäumen dienten als
Fenster; es duftete nach zerstoßenen Kiefernnadeln. Im
Gemeinschaftssaal der Halle saßen einige Elfen und lasen oder
schrieben, in einer Ecke spielten andere auf Schilfrohrflöten. Alle
hielten ausnahmslos inne und hießen Saphira mit einem ehrerbietigen
Kopfnicken willkommen.
»Hier würdet ihr beide wohnen, wenn ihr
nicht Reiter und Drache wärt«, erklärte Arya.
»Es ist wunderschön«, entgegnete
Eragon.
Arya führte ihn und Saphira in dem für
Drachen zugänglichen Bereich herum. Jedes Zimmer hielt eine neue
Überraschung bereit; keine zwei waren gleich und bei jedem hatte
man auf einzigartige Weise den Wald in den Bau miteinbezogen. In
einem Gemach perlte an der knorrigen Wand ein silbriger Bach
herunter und plätscherte in ein Kiesbett ins Freie hinaus. In einem
anderen Zimmer wurden Decke und Wände vollständig von tiefgrünen
Kletterpflanzen bedeckt, aus deren Blättern trompetenförmige Kelche
mit zartrosa und weißen Blüten heraussprossen. Arya nannte sie
Lianí-Ranken.
Sie betrachteten viele meisterhafte
Kunstwerke, angefangen von Wunschbildern über Gemälde und
Skulpturen bis hin zu leuchtenden Mosaiken aus buntem Glas - alles
in den organischen Formen der Natur.
In einem offenen Pavillon, der durch
überdachte Wandelgänge mit zwei anderen Gebäuden verbunden war,
unterhielten sie sich eine Weile mit Islanzadi. Die Königin
erkundigte sich nach Eragons Ausbildung und dem Zustand seines
Rückens, worauf er mit kurzen, höflichen Sätzen antwortete. Die
Königin schien zufrieden zu sein, wechselte noch einige Worte mit
Saphira und zog sich wieder zurück.
Danach gingen sie wieder in den Garten
hinaus. Eragon hielt sich neben Arya - Saphira trottete ihnen
hinterher - und lauschte verzückt ihrer hellen Stimme, während sie
ihm die verschiedenen Blumenarten erklärte, woher sie stammten, wie
man sie pflegte und welche man mit Magie verändert hatte. Sie
deutete auf Blumen, die ihre Blüten nur in der Nacht öffneten, und
wies ihn auf den seltenen weißen Stechapfel hin.
»Was ist denn deine Lieblingsblume?«, fragte
er sie.
Arya lächelte und führte ihn zu einem Baum,
der am Rand des Gartens neben einem kleinen, von Binsen gesäumten
Teich stand. Um den untersten Ast rankte sich eine Prunkwinde mit
drei samtschwarzen, fest geschlossenen Blüten.
Arya hauchte sie sacht an und flüsterte:
»Öffnet euch!«
Die Blüten raschelten leise, als sie ihre
schwarzen Gewänder entfalteten und den kostbaren Nektar in ihrem
Innern offenbarten. Die Blütenkelche schimmerten in einem
prachtvollen Königsblau, das zu den Blumenkronen hin in tiefes
Schwarz überging, wie der Tag in die Nacht.
»Ist das nicht die schönste und
entzückendste Blume, die es gibt?«, fragte Arya.
Eragon beobachtete Arya verstohlen, war sich
schmerzhaft deutlich ihrer Nähe bewusst. »Ja... sie ist
wunderschön«, sagte er. Bevor ihn der Mut verließ, fügte er rasch
an: »Genau wie du.«
Eragon!, fauchte
Saphira.
Arya starrte ihn durchdringend an, bis er
den Blick abwenden musste. Als er es wieder wagte, sie anzuschauen,
fühlte er sich zutiefst verletzt, als er ihr amüsiertes Lächeln
sah. »Das war sehr freundlich von dir«, murmelte sie. Sie strich
über eine der Blüten und schaute von ihr zu Eragon. »Fäolin hat sie
in der Nacht einer Sommersonnenwende erschaffen, nur für
mich.«
Eragon trat verlegen von einem Fuß auf den
anderen und brummte etwas Unverständliches. Es verletzte und
beleidigte ihn, dass sie ihn und sein Kompliment nicht ernst nahm.
Er hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, und einen Moment lang
überlegte er, ob er einen Zauber wirken könne, der ihm genau das
erlauben würde.
Letztlich räusperte er sich bloß und sagte:
»Entschuldige uns bitte, Arya Svit-kona, aber es ist spät und wir
müssen zu unserem Baum zurückkehren.«
Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Natürlich,
Eragon. Ich verstehe.« Sie begleitete sie zum Eingang, öffnete
ihnen die Türen und verabschiedete sich. »Gute Nacht, Saphira, gute
Nacht, Eragon.«
Gute Nacht,
erwiderte Saphira.
»Sehen wir dich morgen?« Trotz seiner
Verlegenheit konnte Eragon sich die Frage nicht verkneifen.
Arya legte den Kopf in die Seite. »Ich
fürchte, morgen bin ich zu beschäftigt.« Dann schlossen sich die
Türen und versperrten ihm den Blick auf die Elfe.
Saphira legte sich auf den Boden und stupste
Eragon an. Hör auf zu träumen und steig
auf! Er kletterte über ihr linkes Vorderbein auf seinen
gewohnten Platz und hielt sich am Halsstachel fest, als Saphira
sich zu voller Größe aufrichtete. Wie
kannst du mich für mein Verhalten gegenüber Glaedr tadeln und dich
dann selbst so gedankenlos aufführen? Was hast du dir bloß dabei
gedacht?
Du weißt genau, was ich
für Arya empfinde!, sagte er mürrisch.
Pah! Wenn du mein
Gewissen bist und ich das deine, dann ist es meine Pflicht, dir zu
sagen, wenn du dich wie ein tolldreister Gockel aufführst. Du
denkst nicht logisch; dazu hält Oromis uns doch immer an. Was
erwartest du denn, was zwischen dir und Arya passieren wird?
Nichts! Sie ist eine Prinzessin!
Und ich bin ein
Drachenreiter.
Sie ist eine Elfe, du
bist ein Mensch!
Ich sehe mit jedem Tag
mehr wie ein Elf aus.
Eragon, sie ist über
hundert Jahre alt!
Ich lebe genauso lange
wie sie oder jeder andere Elf.
Mag sein, aber noch
hast du nicht lange genug gelebt, und genau das ist das Problem.
Der Altersunterschied ist zu groß! Sie ist eine erwachsene Frau und
besitzt die Erfahrungen eines ganzen Jahrhunderts, während du ein
-
Was? Was bin ich?,
herrschte er sie an. Ein Kind? Glaubst du
das?
Nein, du bist kein
Kind. Nicht nach alledem, was du erlebt und getan hast, seit wir
zusammen sind. Aber du bist blutjung, selbst nach den Maßstäben
deines kurzlebigen Volkes. Und noch viel jünger nach denen der
Zwerge, der Drachen und der Elfen!
Du auch.
Seine Erwiderung brachte sie für eine Minute
zum Schweigen. Ich versuche doch nur,
dich zu beschützen, Eragon, gab sie schließlich
zurück. Mehr nicht. Ich möchte, dass du
glücklich wirst, aber das wird dir nicht gelingen, solange du Arya
umgarnst.
Sie wollten sich gerade hinlegen, als im
Vestibül die Falltür klapperte und sie das Rasseln eines
Kettenhemds vernahmen; jemand kam herauf. Eragon griff nach dem
Schwert und riss die Schiebetür auf, bereit, den Eindringling zu
stellen.
Er ließ Zar’roc sinken, als er Orik in der
offenen Falltür stehen sah. Der Zwerg nahm einen tiefen Schluck aus
einer Flasche, die er in der Linken schwenkte, und blinzelte zu
Eragon auf. »Verflixt noch mal, wo biste denn? Ah, da stehste ja!
Ich hab mich schon gefragt, wo du... Konnt dich nich finden... und,
schwupsdiwups, plötzlich biste da! Worüber wolln wir reden, hmm,
wir zwei beiden, wo wir zusammen in diesem hübschen Krähennest
hocken? Hicks!«
Eragon packte Oriks freien Arm und half ihm
auf. Es überraschte ihn immer wieder, wie schwer der Zwerg war. Er
wog sicher so viel wie ein kleiner Felsbrocken. Als Eragon Orik
losließ, schwankte der Zwerg hin und her und geriet dabei in eine
solche Schieflage, dass er beim geringsten Lufthauch umzukippen
drohte.
»Komm schon rein!«, sagte Eragon und schloss
die Falltür. »Du holst dir noch eine Erkältung.«
Orik blinzelte und richtete seine runden,
tief liegenden Augen auf Eragon. »Du hast mich noch nich mal in
meiner Blätterbude besucht! Du hast mich den Elfen ausgeliefert,
und das is’ne verdammt elende, langweilige Gesellschaft, also
wirklich! Hicks!«
Eragon lächelte verlegen, als ihn ein
schlechtes Gewissen beschlich. Über all die Aufregungen hatte er
den Zwerg tatsächlich vollkommen vergessen. »Es tut mir Leid, dass
ich dich noch nicht besucht habe, Orik, aber meine Studien
beanspruchen meine ganze Zeit. Komm, gib mir deinen Mantel!« Er
half dem Zwerg aus dem braunen Umhang. »Was trinkst du da?«
»Faelnirv«, erwiderte Orik. »Wirklich
lecker, das Zeug! Die beste und größte Erfindung der Elfen. Er
schenkt einem die Gabe der Redseligkeit. Die Worte strömen einem
wie ein Sack voller Fische aus’m Mund, wie Schwärme von atemlosen
Kolibris, wie Flüsse von sich windenden Schlangen. Hicks!« Er
verstummte, sichtlich ergriffen von der einzigartigen Erhabenheit
seiner Vergleiche. Als Eragon ihn ins Schlafzimmer schob, schwenkte
Orik grüßend seine Flasche in Saphiras Richtung. »Grüß dich,
Eisenzahn! Mögen deine Schuppen so hell glühen wie die Kohlen in
Morgothals Schmiede!«
Sei gegrüßt,
Orik. Saphira schob den Kopf zum Rand ihres Lagers
vor. Was ist denn mit dir los? Das ist
doch gar nicht deine Art. Eragon wiederholte ihre Frage
für den Zwerg.
»Du meinst, wieso ich betrunken - hicks -
bin?«, fragte Orik zurück. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, den
Eragon ihm untergeschoben hatte, und seine Füße baumelten mehrere
Fingerbreit über dem Boden. Er schüttelte den Kopf. »Rotkappen,
Grünkappen, Elfen hier und Elfen dort. Ich ersauf in Elfen und
ihrer dreimal verfluchten Höflichkeit. Blutleer sin die, jawoll!
Wortkarg obendrein! Ja, mein Herr, nein, mein Herr, drei Beutel
voll Mist, mein Herr, aber mehr als das kannste ihnen nich
entlocken, nein!« Er sah Eragon mürrisch an. »Was soll ich hier
anfangen, während du dich durch deine Ausbildung schlägst? Soll ich
rumsitzen und Däumchen drehen, bis ich zu Stein werd und den
Geistern meiner Ahnen Gesellschaft leiste, he? Sag’s mir,
scharfsinniger Reiter!«
Gibt es denn nichts,
womit du dich beschäftigen kannst?, ließ Saphira Eragon
fragen.
»Doch«, erwiderte Orik. »Ich bin ein ganz
ordentlicher Schmied, wenn’s nötig is. Aber warum soll ich
wunderbare Waffen und Rüstungen für Leute schmieden, die sie gar
nich zu schätzen wissen? Ich bin hier überflüssig! So nutzlos wie’n
dreibeiniger Feldûnost.«
Eragon langte nach der Flasche. »Darf
ich?«
Orik sah zwischen ihm und der Flasche hin
und her, verzog das Gesicht und reichte sie ihm. Der Faelnirv rann
wie flüssiges Eis durch Eragons Kehle. Es brannte höllisch, und er
blinzelte, als ihm Tränen in die Augen traten. Nachdem er einen
zweiten Schluck genommen hatte, gab er Orik die Flasche zurück, der
enttäuscht zu sein schien, weil nur noch so wenig davon übrig
war.
»Und, was für Schandtaten heckste in diesen
idyllischen Wäldern mit deinem Lehrmeister aus?«, wollte Orik
wissen.
Der Zwerg kicherte und stöhnte abwechselnd,
während Eragon ihm von seiner Ausbildung erzählte, von der
missratenen Segnung in Farthen Dûr, vom Menoa-Baum, von seinem
Rücken und von allem anderen, das in den letzten Tagen geschehen
war. Eragon schloss mit dem Thema, das ihm im Moment am wichtigsten
war: Arya. Vom Schnaps redselig geworden, vertraute er Orik seine
Gefühle für die Elfenprinzessin an und schilderte, wie sie seine
Annährungsversuche abgeschmettert hatte.
Orik hob drohend den Finger. »Der Fels unter
dir is schmutzig, Eragon. Fordere das Schicksal nich heraus. Arya
is…« Er hielt knurrend inne und genehmigte sich noch einen Schluck
Faelnirv. »Ah, dafür isses ja längst zu spät. Wer bin ich schon,
dass ich dir sagen könnt, was weise is und was nich? Hicks!«
Saphira mischte sich unvermittelt
ein: Bist du eigentlich verheiratet,
Orik? Überrascht gab Eragon die Frage an den Zwerg
weiter. Er hatte noch nie über Oriks Privatleben nachgedacht.
»Eta«, antwortete
Orik. »Aber ich bin der schönen Hvedra versprochen, der Tochter von
Thorgerd Einauge und Himinglada. Wir wollten in diesem Frühling
heiraten, aber dann ham die Urgals angegriffen und Hrothgar hat
mich auf diese vermaledeite Reise geschickt!«
»Stammt sie aus dem Dûrgrimst Ingietum?«,
erkundigte sich Eragon.
»Natürlich!«, posaunte Orik und schlug mit
der Faust an die Stuhlseite. »Glaubste vielleicht, ich würd
außerhalb meines Clans heiraten? Sie is die Enkelin meiner Tante
Vardrûn, Hrothgars Kusine zweiten Grades, mit weißen, runden Waden
so weich wie Satin, Wangen so rot wie Äpfeln, und das hübscheste
Zwergenmädchen, das je gelebt hat!«
Das glaube ich
gerne, ließ Saphira ausrichten.
»Ich bin mir sicher, dass du sie bald
wiedersehen wirst«, meinte Eragon.
»Hmpff!« Orik musterte Eragon aus
zusammengekniffenen Augen. »Glaubste an Riesen? An große Riesen,
starke Riesen, dicke un bärtige Riesen mit Fingern wie
Spaten?«
»Ich habe noch nie einen gesehen oder von
ihnen gehört«, sagte Eragon, »außer in Legenden. Falls sie
tatsächlich existieren, dann bestimmt nicht in Alagaësia.«
»Oh doch, sie existieren! Das tun se!«, rief
Orik und schwenkte die Flasche über den Kopf. »Sag mir,
Drachenreiter, wenn dir so ein Furcht erregender Gigant begegnet,
wie würd der dich dann wohl nennen, außer ›mein Abendessen‹?«
»Eragon, nehme ich an.«
»Nein, nein. Er würd dich einen Zwerg
nennen, denn genau das wärste für ihn.« Orik brach in schallendes
Gelächter aus und stieß Eragon einen harten Ellbogen in die Rippen.
»Verstehste jetzt? Menschen und Elfen sin die Riesen. Die Welt is
voll von ihnen, hier und dort und überall, sie stapfen mit ihren
großen Füßen durch die Gegend und stellen uns fortwährend in den
Schatten.« Er prustete wieder los und schaukelte gefährlich mit dem
Stuhl hin und her, bis er schließlich umkippte und mit einem
vernehmlichen Plumps auf dem Allerwertesten landete.
Eragon half ihm wieder auf. »Ich glaube, du
solltest heute lieber hier bleiben. Du kommst niemals die
Baumtreppe hinunter, ohne dir alle Knochen zu brechen.«
Orik stimmte mit fröhlicher Gleichgültigkeit
zu. Er erlaubte Eragon sogar, ihm das Kettenhemd auszuziehen und
ihn zum Bett zu tragen. Eragon seufzte, löschte das Licht und legte
sich auf seine Seite der Matratze.
Er schlief ein, das unaufhörliche Gemurmel
des Zwergs im Ohr.
»Hvedra... Hvedra... Hvedra...«